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"Für die Digitalisierung gibt es kein Universalrezept"

Was sind die größten Herausforderungen der Digitalisierung und was gilt es zu tun, um diese zu überwinden? Ein Gastbeitrag von Futurice-Fachmann Helmut Scherer.
01.09.2022

Die Digitalisierung demokratisiert das Recht, Entscheidungen zu treffen. Geht man die digitale Transformation im Unternehmen ganzheitlich an, über alle Abteilungen hinweg, stehen Daten, die die Grundlage für Entscheidungen sind, plötzlich allen zur Verfügung – nicht nur dem Ma-nagement und den Führungspositionen.

Von:
Helmut Scherer,
Managing Director
bei Futurice


Digitale Transformation, Künstliche Intelligenz, Machine Learning, Security – ohne all diese Buzzwords kommt heute keine Diskussion über die Digitalisierung mehr aus. Die Kunst ist es jedoch, diese Begriffe mit Leben zu füllen und die Herangehensweisen, Prozesse und Lösungen zu definieren, die zu den jeweiligen Unternehmenszielen passen. Was für den einen der richtige Weg ist, kann für den anderen komplett irrelevant sein.

Ganz konkret ausgedrückt: Für eine erfolgreiche digitale Transformation gibt es kein Universalrezept. Diese Erfahrung machen viele Unternehmen, wenn sie sich mit dem Thema auseinandersetzen. Darum ist es auch nicht verwunderlich, dass eine Bitkom-Studie jüngst gezeigt hat, dass nach wie vor 89 Prozent der Unternehmen angeben, dass sie in Sachen Digitalisierung auf unerwartet viele Schwierigkeiten stoßen. Doch was sind die größten Herausforderungen und was gilt es zu tun, um diese zu überwinden?

Differenzierung durch neue Geschäftsmodelle

Ausgangspunkt bei vielen etablierten Unternehmen ist ein analoges Produkt- oder Dienstleistungsangebot. Ergänzt man dieses durch entsprechende digitale Tools und Services, entsteht ein besseres Erlebnis und ein größerer Nutzen für den Kunden. Ein klassisches Beispiel hierfür sind Maschinenbauer: Erweitern sie ihre Produkte um Apps oder Serviceplattformen, in welchen sie Geräte registrieren können, können diese digital gesteuert, gewartet und verwaltet werden. Doch das allein macht noch keine erfolgreiche Digitalisierung aus.

Vernetzt sind mittlerweile viele Komponenten und Daten werden nahezu überall generiert. Für Unternehmen gilt es, aus der Nutzung digitaler Tools die richtigen Daten und Schlüsse zu ziehen, um die Bedürfnisse und Anforderungen der Kunden besser zu verstehen. Softwarebasierte Services versetzen Unternehmen in die Lage, fokussiert auf den Nutzer zugeschnittene Ge-schäftsmodelle zu implementieren und bieten daher neue Differenzierungsmöglichkeiten. Zu-dem entsteht durch die Kombination aus physischen Produkten mit digitalen Dienstleistungen ein zusätzlicher Mehrwert für Kunden und so können höhere Umsätze als beim Verkauf von rein analogen Produkten erzielt werden.

Firmen benötigen ein neues Betriebssystem

Ein weiteres Problem: In Unternehmen erzeugen und nutzen heutzutage viele Abteilungen und Bereiche Daten – oft aber getrennt voneinander, ohne das große Ganze im Blick. Optimierung und Innovation finden separat in einzelnen Bereichen statt. Hier die Verbindung insgesamt wiederherzustellen – zwischen den Abteilungen, den Menschen, den Daten und Prozessen, ist eine große Herausforderung, die die Digitalisierung mit sich bringt. Um diese erfolgreich anzugehen, ist mehr gefragt als der Aufbau neuer digitaler Fähigkeiten.

Es bedeutet meist einen enormen Mindset-, Kultur- und Organisationswandel, Die Bereitschaft eine neue Führungskultur zu etablieren, ist jedoch sowohl bei großen als auch bei kleinen und mittelständischen Unternehmen meist gering und wird selten als Teil einer erfolgreichen Digitalstrategie wahrgenommen. Oft haben sich über Jahrzehnte Muster entwickelt, die für lange Zeit Erfolge mit sich brachten, da die Märkte sehr stabil waren. Momentan ist dies nicht mehr der Fall und die aktuellen Krisen sowie der digitale Wandel verlangen nach einem organisatorischen Umbau, sowie einem kultu-rellen Wandel.

Digitalisierung demokratisiert Entscheidungsrecht

Die Digitalisierung demokratisiert das Recht, Entscheidungen zu treffen. Geht man die digitale Transformation im Unternehmen ganzheitlich an, über alle Abteilungen hinweg, stehen Daten, die die Grundlage für Entscheidungen sind, plötzlich allen zur Verfügung – nicht nur dem Management und den Führungspositionen. Jedem im Unternehmen die Möglichkeit zu geben, Ent-scheidungen auf Basis dieser Daten zu treffen, macht Unternehmen agiler, reaktiver und damit auch wettbewerbsfähiger.

Das bedeutet aber zugleich auch einen Machtverlust auf den Ebenen, die zuvor exklusiven Zugang zu diesen Daten hatten. Unternehmen müssen daher daran arbeiten, festgefahrene Strukturen zu erneuern und die Bereitschaft zu fördern, Daten und Wissen transparent zu machen, damit alle Mitarbeiter zur Entscheidungsfindung befähigt werden.

Produktzentriertes Denken vs. Customer Experience

Des Weiteren begreifen viele Firmen ihr Produkt als den zentralen Punkt der Kundenbedürfnis-se. Gerade in der Industrie ist dieses oft im Wesen der Firmen verankert und in einem nahezu perfekten Prozess rund um die Entstehung, die Vermarktung und den Vertrieb des Produkts abgebildet. Bei der Entwicklung digitaler Services kommt es jedoch auf die konsequente Lösung von Kundenproblemen an.

Dies erfordert ein Vorgehen, das ein breiteres Denken erlaubt, bei dem stetig Kundennutzen erzeugt und validiert wird. Dies gelingt, indem neue Versionen der digitalen Dienste regelmäßig - also im monatlichen, wöchentlichen oder sogar täglichen Rhythmus - an den Markt gebracht werden. Dieses iterative Vorgehen beschleunigt den Lern- und Fortschrittsprozess bei digitalen Anwendungen deutlich. Dem gegenüber steht oft die jahrelange Praxis, ein Produkt in langen Prozessen „zu Ende“ zu entwickeln und es dann erst an die Kunden zu geben.

Wandel braucht Zeit

Eine weitere wichtige Rolle spielt das Thema Zeit. Ob ein Projekt erfolgreich ist, wird oft allein am Quartalsumsatz gemessen. Damit scheitern viele Digitalisierungsprojekte schon, bevor sie ihre Wirkung richtig entfalten können. Grund dafür: Das quartalsweise Denken ist zu kurz gegriffen, Transformationsprojekte benötigen Zeit. Sie sind langfristige Initiativen, die dementsprechend gemessen werden sollten, beispielsweise am Unternehmenswert über einen längeren Zyklus – kurzfristige KPIs sind keine geeigneten Kriterien. Zugleich sind sie ein Anzeichen dafür, dass es Unternehmen an Willen fehlt, auf lange Sicht neue und innovative Wege zu gehen.

Diesen fehlenden Willen zur Erneuerung sieht man in Deutschland aktuell daran, dass laut Bitkom-Studie 33 Prozent der befragten Unternehmen angeben, im nächsten Jahr angesichts der aktuellen Krisen, Investitionen in die Digitalisierung herunterfahren zu wollen. Doch Unternehmensführungen sollten sich bewusstwerden, dass sowohl analoge Produkte als auch digitale Lösungen gleichermaßen wichtig sind.

Tatsache ist, dass die meiste Hardware bereits vernetzt bzw. intelligent ist. Diese Ausgaben sind längst getätigt – ohne die anstehenden Investitionen in Richtung der Nutzung von Daten und Services, die auf dieser Vernetzung aufbauen und dem Verknüpfen der Hardware in Industrie-Ökosysteme, können keine neuen Geschäfts- oder Nut-zungsmodelle realisiert werden. Der bisherige Aufwand wäre damit praktisch umsonst. (sg)


Helmut Scherer hat 25 Jahre Berufserfahrung vom Großkonzern bis zum Start-Up. Als einer der Direktoren führte er ein deutsches Start-Up und skalierte es in Europa. Er baute eine globale digitale Business Unit in einem indischen Konzern auf und war darüber hinaus in amerikanischen Technologieunternehmen tätig. Seit 2015 ist er Managing Director der Futurice GmbH, die zusammen mit deutschen Mittelständlern und DAX-Unternehmen die Digitalisierung erfolgreich umsetzt.