2024 droht neuer Fehlzeiten-Rekord
"Angesichts des aktuellen Fachkräftemangels und vieler offener Stellen wird es für Arbeitgeber zunehmend wichtig, die Bindung ihrer Mitarbeitenden an die eigene Organisation zu stärken", sagt Johanna Baumgardt, Forschungsbereichsleiterin für Betriebliche Gesundheitsförderung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) und Mitherausgeberin des Fehlzeiten-Reports 2024.
Denn die emotionale Bindung der Beschäftigten an das Unternehmen lässt sich der Studie zufolge vor allem durch das Führungsverhalten und die individuelle Passung der eigenen Arbeitssituation zu den Bedürfnissen und Wünschen der Beschäftigten positiv beeinflussen, was wiederum dem Gesundheitsmanagement durch weniger Fehlzeiten zugute kommt.
Für den aktuellen Report mit dem Titel "Bindung und Gesundheit – Fachkräfte gewinnen und halten" wurden insgesamt 2.501 abhängig Beschäftigte im Alter von 18 bis 66 Jahren vom Forsa-Institut befragt.
Wechselabsicht verringern
In der Erhebung zeigten sich deutliche Zusammenhänge zwischen einer hohen emotionalen Bindung an den Arbeitgeber einerseits und einer höheren Arbeitszufriedenheit sowie geringeren Wechselabsichten der Befragten andererseits.
Laut der Befragung war eine eher geringe Wechselabsicht unter den Beschäftigten festzustellen: So gaben nur 6,4 Prozent der Befragten an, weniger als zwölf Monate bei ihrem aktuellen Arbeitgeber bleiben zu wollen. 8,4 Prozent wollen nach eigenen Angaben länger als fünf Jahre bei ihrem jetzigen Unternehmen bleiben, 5,1 Prozent länger als zehn Jahre. Der mit Abstand größte Teil der Befragten (57,3 Prozent) antwortete, bis zur Rente bleiben zu wollen.
Bindung senkt Krankschreibungen
Ein weiteres Ergebnis des Reports: Die Metaanalyse zahlreicher wissenschaftlicher Beiträge und unterschiedlicher Daten zeigt, dass Beschäftigte, die eine höhere emotionale Bindung an ihren derzeitigen Arbeitgeber haben, seltener krankgeschrieben sind und auch seltener krank zur Arbeit gehen. Damit bestätige der Fehlzeiten-Report einen Zusammenhang, der auch in anderen Studien zur Gesundheitsförderung nachgewiesen wurde, so die Forschenden.
"Wenn Organisationen ihre Beschäftigten längerfristig binden wollen, sollten sie Maßnahmen zur Erhöhung der Arbeitszufriedenheit und zur Verbesserung der individuellen Passung der Beschäftigten zur eigenen Arbeit ergreifen. Außerdem sollten sie die Führungskompetenzen ihres Leitungspersonals stärken und mit Betrieblicher Gesundheitsförderung in die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden investieren", so das Fazit von Baumgardt. In der aktuellen Befragung gaben erfreulicherweise fast alle Befragten (91,9 Prozent) an, dass der eigene Arbeitgeber Angebote der Betrieblichen Gesundheitsförderung vorhält; die Hälfte dieser Personen hatte solche Angebote bereits in Anspruch genommen.
Atemwegserkrankungen führen zu historisch hohen Krankenständen
Potenziale, die in guter Führung liegen, sollten auch genutzt werden: Die aktuelle Analyse der Krankschreibungen zeigt, dass sich die Krankenstände im bisherigen Jahresverlauf 2024 weiterhin auf einem historisch hohen Niveau bewegen: Der Spitzenwert von 225 Arbeitsunfähigkeitsfällen je 100 erwerbstätige AOK-Mitglieder aus dem vergangenen Jahr ist bereits im Zeitraum von Januar bis August 2024 erreicht worden - und damit schon vor der zu erwartenden Erkältungswelle im Herbst und Winter.
"Es ist daher davon auszugehen, dass wir in der Gesamtbilanz für 2024 einen noch höheren Wert sehen werden als 2023", so die Einschätzung von Baumgardt. Zum Vergleich: Im Durchschnitt der Jahre 2014 bis 2021 waren nur knapp 160 Fälle je 100 Mitglieder zu verzeichnen.
Der wesentliche Treiber dieser Entwicklung sind nach wie vor die Atemwegserkrankungen. Es gibt aber auch andere mögliche Gründe: So kann die Einführung der elektronischen Krankmeldungen zu einer vollständigeren Erfassung der AU-Bescheinigungen beigetragen haben, da früher nicht alle Versicherten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei der Kasse eingereicht haben.
Keine Hinweise auf Missbrauch der telefonischen Krankschreibung
Die AOK-Vorstandsvorsitzende Carola Reimann ging auf einen anderen Aspekt ein, der zuletzt im Zusammenhang mit den hohen Krankenständen diskutiert worden ist: Mitte September hatte Bundesfinanzminister Christian Lindner die Abschaffung der telefonischen Krankschreibung gefordert, weil es eine Korrelation zwischen dem hohen Krankenstand und der Einführung dieser Maßnahme gebe.
"Diese gefühlte Wahrheit können wir nicht bestätigten", betonte Reimann. "Verschiedene Auswertungen des WIdO zu den Fehlzeiten in der Pandemie lassen den Schluss zu, dass mit der damals neu eingeführten Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung sehr verantwortungsvoll umgegangen worden ist." Weder 2020 noch 2021 seien im Zusammenhang mit der damals neu eingeführten Option höhere Krankenstände zu sehen gewesen. Vielmehr sei dies eine Möglichkeit, die Arztpraxen gerade in Infektionswellen zu entlasten und zu einer Reduzierung von Kontakten mit erkrankten Personen beizutragen.
Lange Ausfallzeiten bei psychischen Erkrankungen
Auch der laut Report stetige Anstieg von Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen verursacht lange Krankschreibungen. So haben die AU-Tage aufgrund psychischer Erkrankungen seit 2014 um knapp 47 Prozent zugenommen (Stand: August 2024). Bei Krankschreibungen wegen Burnout-Erkrankungen war zudem ein Anstieg von 100 AU-Tagen je 100 erwerbstätige AOK-Mitglieder im Jahr 2014 auf knapp 184 Tage im Jahr 2024 festzustellen (Stand: August 2024).
"Als Ursache vermuten wir ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren – von der Zunahme psychischer Belastungen durch globale Krisen bis zu Veränderungen in der Arbeitswelt wie Verdichtung und Entgrenzung der Arbeit durch ständige Erreichbarkeit.“
Glaubwürdigkeit und Kongruenz
Einer der wichtigsten Faktoren für die Bindung der Mitarbeitenden seien "Glaubwürdigkeit und Kongruenz des Managements im Umgang mit Fragen der psychischen Gesundheit", betonte Antje Ducki, Professorin für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Berliner Hochschule für Technik (BHT) und Mitherausgeberin des Fehlzeiten-Reports 2024.
Unternehmen sollten sich also immer wieder die Frage stellen, wie wichtig ihnen ein ehrlich gemeintes Gesundheitsmanagement mit entsprechender Unterstützung der Führungskräfte wirklich ist und welche Chancen sich daraus ergeben. (bs)