Karriere

EWE baut ein digitales Unternehmensgedächtnis auf

Viele Babyboomer gehen bald in Rente. Um ihr langjähriges Wissen zu sichern, testet der Energieversorger ein digitales Tool mit Gaming-Elementen.
02.09.2024

Der digitale Wissenstransfer ist nach dem Pilotprojekt für den Energieversorger EWE gangbar und er prüft eine Weiterentwicklung.

Mit wissenschaftlicher Unterstützung von Student:innen der Universität Oldenburg testete die HR-Abteilung von EWE über mehrere Monate ein neues digitales Tool zum Wissenstransfer. Ein ZfK-Interview mit Eva-Maria Müller, Leiterin der Personalentwicklung bei EWE, und Christine Lutz, Mitgründerin und Geschäftsführerin des Softwaranbieters great2know und Koordinatorin des Pilotprojekts.

  • Eva-Maria Müller leitet seit 2019 die Personalentwicklung der EWE AG.

Frau Müller, warum möchten Sie das Wissen bei EWE stärker digitalisieren?

Eva-Maria Müller: Veränderungen in Unternehmen gelingen nur durch das Know-how und die Erfahrung der Mitarbeitenden. In Zeiten schnellen Wandels und des Fachkräftemangels wird es immer schwieriger, dieses Wissen zu erhalten. Beschäftigte entwickeln sich beruflich weiter und viele Babyboomer stehen kurz vor der Pensionierung. Ein digitales Unternehmensgedächtnis ermöglicht es, wertvolles Wissen zu speichern und bei Neubesetzungen schnell und einfach darauf zuzugreifen. Da auch Wissen altert, muss es ständig aktualisiert und gepflegt werden.

Das Thema ist neu?

Müller: Wissensdatenbanken gibt es natürlich bereits. Doch gerade in der Energiebranche stehen viele Transformationen an: Neue Energieträger und veränderte Kundenanforderungen erfordern eine schnelle Anpassung der Beraterteams. Smarte Energiezähler bieten Verbraucher:innen mehr Transparenz, und immer mehr Menschen nutzen selbst Solarenergie, z.B. mit Balkonkraftwerken und Wärmepumpen. Dafür benötigen Mitarbeitende stetig neues Wissen. Unternehmen müssen es schaffen, intern die Belegschaft zu mobilisieren, kontinuierlich weiterzubilden und so die Kunden fachgerecht-kompetent zu beraten.

  • Christine Lutz ist Mitgründerin und Geschäftsführerin des Start-ups great2know.

Frau Lutz, In den Veränderungsprozessen geht laut Ihrer Aussage oft wertvolles Wissen verloren. Inwiefern?

Christine Lutz: Eine Umfrage zeigt: 20 Prozent des Wissens, das für das Funktionieren des Unternehmens wichtig ist, steckt im Kopf der Mitarbeitenden – vor allem das Erfahrungswissen. Laut der Bundesagentur für Arbeit werden bis 2036 etwa 30 Prozent der Beschäftigten in Rente gehen, während die junge Generation wechselfreudiger ist als je zuvor. Zusätzlich verbringen Arbeitnehmer:innen laut einer McKinsey-Studie 20 Prozent ihrer Arbeitszeit mit der Suche nach Informationen.

Daher bedarf es jetzt Lösungen, mithilfe derer der „braindrain“ verhindert werden kann: Denn die „Alleswisser“, die man immer fragen konnte, sind oft „plötzlich“ im Ruhestand – und dieses wertvolle Wissen muss unbedingt dokumentiert und geschützt werden.

EWE konzentriert sich beim Wissenstransfer derzeit vor allem auf die Besetzung von Schlüsselpositionen?

Müller: Da der Prozess sehr arbeitsintensiv ist, führen wir zahlreiche Workshops mit Führungskräften und Wissensträgern durch. Das funktioniert gut, kostet jedoch viel Zeit im Tagesgeschäft. Zusätzlich haben wir ein Patensystem und ein Einarbeitungsprogramm, das ist dann noch keine Sicherung des Wissens auf Dauer. Wer die Aufgaben übernimmt, ist oft noch unklar. Diese Lücken müssen geschlossen werden.

Wir sahen das Pilotprojekt als Chance, wertvolle Erfahrungen mit einem neuen digitalen Tool zu sammeln und gleichzeitig eine wissenschaftliche Analyse zu erhalten und den Wissenstransfer skalierbar zu machen. Die Zusammenarbeit mit Studierenden der Universität Oldenburg und der Firma great2know ist so entstanden.

Der Wissenstransfer wurde anhand von drei Beispielen digital durchgeführt?

Lutz: Ja, die Beispiele betrafen Onboarding, Offboarding und einen internen Stellenwechsel. Ziel war es, Wissensgeber:innen flexibel durch ein Tool zu führen, relevante Fragen digital zu stellen und so den Prozess zu testen und mit den bisherigen Methoden zu vergleichen.

Also ersetzen die digitalen Fragen den Workshop und speichern dann die Ergebnisse KI-gestützt?

Müller: Teils, teils. Ein Workshop ist natürlich persönlicher und individueller. Das Tool dient als Leitfaden und ermöglicht eine breitere Informationssammlung über viele Stellen hinweg – bei geringerem Aufwand. Für Schlüsselpositionen werden wir wahrscheinlich künftig Workshops und ein digitales Tool kombiniert einsetzen.

Lutz: Der Prozess geht dabei langfristig über einen Onlinefragebogen deutlich hinaus. Nutzer:innen können Videos oder Sprachnotizen aufnehmen, die automatisch transkribiert werden. Das System erkennt auch Dialekte, kann die Texte kürzen und zusammenfassen. Die KI stellt sinnvolle Nachfragen und agiert als Moderator. Es wird nach dem hybriden Ansatz gearbeitet, bei dem immer auch Menschen mit eingebunden sind. Alles, was in einem Workshop erarbeitet wird, muss anschließend noch dokumentiert werden. Das Tool übernimmt im Gegensatz dazu für uns diese Aufgabe.

Und wo findet eine Qualitätskontrolle statt?

Müller: Hier kommen Stakeholder wie Führungskräfte und Kolleg:innen ins Spiel. Mit ihnen ist während des digitalen Arbeitens „Sparring“ möglich. Die Stakeholder schauen sich die Antworten der Wissensgebenden abschließend auch noch einmal an und ergänzen sie gegebenenfalls. Niemand wird mit dem Tool allein gelassen, das wäre auch zu einfach gedacht. Der Mensch und sein individuelles Wissen stehen im Mittelpunkt.

Wie waren die konkreten Rückmeldungen aus dem Pilotprojekt?

Lutz: Ein Teil der Testpersonen gab an, nach wie vor persönliche Treffen zu bevorzugen, wobei die Kolleg:innen einer digitalen Lösung gegenüber durchaus aufgeschlossen waren.

Darüber hinaus gab es drei zentrale Ergebnisse: Erstens sei die Plattform einfach zu bedienen. Zweitens wurde der strukturierte Wissenstransfer als sinnvoll und hilfreich empfunden. Drittens wurde zurückgemeldet, dass weitere Schritte notwendig seien, um eine hundertprozentige Nutzerzufriedenheit zu erreichen.

Welche Anpassungen gab es? 

Lutz: Die Befragten wünschten sich die Möglichkeit, mehr Nachfragen stellen zu können. Hier können die Stakeholder stärker eingebunden werden. 

Darüber hinaus wurde von den Testpersonen der Wunsch nach mehr spielerischen Elementen geäußert. 83 Prozent gaben an, sich einen Avatar als Interviewer:in vorstellen zu können - daran arbeiten wir bereits. 

In Zukunft könnten auch persönliche Credits im Wissensmanagement gesammelt und eingelöst werden. Wir lernen viel von der Gaming-Branche, deren Expertise wir uns ins Team geholt haben. Beim Gaming geht es auch darum, die Nutzer:innen zu begeistern und langfristig zu binden.

Müller: Der digitale Wissenstransfer ist nach dem Pilotprojekt für uns auf jeden Fall gangbar und wir prüfen gerade, wie wir ihn weiterentwickeln können.

Was wird sich sonst noch in Zukunft im Bereich Wissenstransfer verändern?

Lutz: Immer mehr Unternehmen setzen die Software „Copilot“ ein, um Dokumente zu lesen und auszuwerten. Dieses Wissen kann dann mit dem strukturierten Erfahrungswissen der Mitarbeitenden „verheiratet“ werden. Gemeinsam ergibt das eine ganzheitliche und komfortable Lernumgebung.

Müller: Moderne Unternehmen befinden sich ja bereits in einem Digitalisierungsprozess. Wir bei HR arbeiten schon lange mit einem Personalmanagementsystem. Auch in anderen Unternehmensbereichen können wir Informationen KI-gestützt bündeln und filtern. Alles greift in Zukunft ineinander. 

Das generierte Wissen ist nicht statisch – in einem unternehmensweiten Wissensmanagement werden Informationen auch außerhalb von On- und Offboarding im Arbeitsalltag von den Beschäftigten kontinuierlich ergänzt und aktualisiert. So wird es zu einem Werkzeug, das viele hergebrachte Laufwerke und Ablagesysteme überflüssig macht. (bs)

Das Interview führte Boris Schlizio.