Karriere

Warum KI alle zu Führungskräften macht

Der Philosoph Christian Uhle untersucht in seinem neuen Buch das wahre Potenzial der Künstlichen Intelligenz (KI) für ein erfüllteres Leben. Anlässlich der Veröffentlichung haben wir nachgefragt, welche Folgen dies für die Arbeitswelt hat.
08.10.2024

Wer Künstliche Intelligenz einsetzt, muss lernen, Arbeitspakete zu verteilen, Aufgabenstellungen zu formulieren und Ergebnisse zu kontrollieren.

Herr Uhle, der Titel Ihres Buches lautet „Künstliche Intelligenz und echtes Leben“. Schließen sich die beiden Konzepte Ihrer Meinung nach aus?

Sie sind kaum noch voneinander zu trennen: Künstliche Intelligenz durchdringt unser Alltags- und Berufsleben weitaus stärker, als es auf den ersten Blick erscheint. Dies zeigt sich nicht nur in der direkten Nutzung von KI-Systemen oder Software, sondern auch in oft unbemerkten, subtilen, aber dennoch bedeutenden Einflüssen. Zum Beispiel werden neue Medikamente mit KI entwickelt - das kann unser Leben verändern, auch wenn wir nicht aktiv eine KI nutzen. Viele Innovationen im Hintergrund, wie etwa signifikante Kostensenkungen oder neue Produkte, basieren zunehmend auf KI-Technologien.

Es heißt, das soll unser Leben langfristig erleichtern. Studien zeigen, dass sich ein Drittel der Beschäftigten ausgebrannt fühlt. Kann uns KI mit smarten Tools zu mehr Zeit für das Wesentliche verhelfen?

Dieses Versprechen ist häufig mit den neuen Innovationen verbunden. Durch effizientere digitale Prozesse im Arbeitsleben könnten Beschäftigte – so die Hoffnung – mehr Raum für ihre Kernaufgaben gewinnen und sich stärker auf ihre eigentlichen Kompetenzen konzentrieren.

Aber ohne bewusst reflektierte Zielvorstellungen wird dies nicht eintreten. Allzu oft wird einfach darauf vertraut, dass „alles besser wird“. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass mit zunehmender Technisierung auch der Stresspegel steigt und das Arbeitsleben sich beschleunigt. Dies führt häufig dazu, dass immer mehr bewältigt werden muss und der Überbau an Nebenaufgaben steigt.

Unternehmen müssen daher bewusst entscheiden, welche Vision sie verfolgen: Welche Bereiche sollen durch KI gestärkt werden und wo hat der Einsatz Grenzen? Auf diesem Weg will das Buch begleiten.

Was bedeutet das für moderne Führung?

Es ist ein Irrglaube, dass durch den Einsatz von KI plötzlich drei statt zwei Projekte gleichzeitig bearbeitet werden könnten, ohne dass dies einen Preis hätte. Kurzfristig mag dies eine bestimmte Art von Effizienz erhöhen, aber langfristig bleiben Menschen auf der Strecke. Stattdessen könnte Führung darauf abzielen, die gewonnene Zeit sinnstiftend zu nutzen.

Das bedeutet zum Beispiel, den Mitarbeitenden Raum zu geben, sorgfältiger zu arbeiten und mit mehr Ruhe auf Kolleg:innen und Kunden einzugehen. Dann erleben die Beschäftigten mehr Sinn in ihrer Arbeit, was erwiesenermaßen die Zufriedenheit, Produktivität und Mitarbeiterbindung erhöht. Das erfordert ein Umdenken bei den Führungskräften.

Welche Fähigkeiten werden in der Arbeitswelt der Zukunft dann gefragt sein? Wer wird davon profitieren?

Eine Faustregel im Umgang mit Künstlicher Intelligenz (KI) lautet: Je standardisierter ein Prozess ist, desto eher kann er automatisiert werden. Dies darf jedoch nicht mit einfachen Abläufen verwechselt werden. Komplexe medizinische Diagnosen sind oft stark standardisiert, aber gleichzeitig sehr anspruchsvoll. Hier können KI-Systeme bald präzisere Diagnosen stellen als Ärzt:innen. Ähnliches gilt für die Analyse großer Datenmengen – hier wird die KI zunehmend im Vorteil sein.

Fähigkeiten, bei denen solides "Handwerkszeug" im Vordergrund steht, wie das Auswerten und Pflegen von Tabellen oder das Erstellen von Präsentationen im festen Corporate Design, werden an Bedeutung verlieren. Stattdessen werden Kompetenzen, die konzeptionelles und strategisches Denken erfordern, immer wichtiger.

Sind das nicht klassische Führungsaufgaben?

Ja, aber künftig werden alle Mitarbeitenden in gewisser Hinsicht zu Führungskräften. Sie delegieren Arbeitspakete, formulieren Prompts – also Aufgabenstellungen für KIs – und überprüfen die Ergebnisse. Sie müssen entscheiden, mit welchen Resultaten sie weiterarbeiten, welche sie modifizieren und welche Richtung Erfolg verspricht. Dadurch werden Führungsfähigkeiten für alle wichtiger. Das ist eine große Veränderung.

Dabei ist entscheidend, dass die Kluft in der Belegschaft nicht weiter wächst. Nicht jeder Mensch ist gleichermaßen dazu befähigt, konzeptionell zu arbeiten. Beschäftigte, deren Arbeit bislang anerkannt war, könnten weniger Wertschätzung erfahren und müssen möglicherweise finanzielle Einbußen hinnehmen.

 

"Menschen empfinden ihre Arbeit aber erst dann als sinnvoll, wenn sie nicht nur für irgendwelche KPIs oder Profite arbeiten, sondern das Gefühl haben, einen echten Mehrwert zu schaffen."
Christian Uhle, Philosoph

Sind die Mitarbeitenden selbst bereit, die Veränderungen durch KI mitzutragen?

Wir leben in einer Arbeitswelt, in der sich viele Beschäftigte, wie gesagt, ausgebrannt fühlen und zudem oft mit ihrer Führung unzufrieden sind. Eine aktuelle Studie aus der DACH-Region zeigt, dass 52 Prozent der Erwerbstätigen keinen Sinn in ihrer Tätigkeit sehen. Innovationen bieten hier ein erhebliches Potenzial „nach oben“, weil sie bestehende Strukturen aufbrechen und das eröffnet einen Möglichkeitsraum.

Allerdings wird dieses Potenzial nicht automatisch realisiert. Die Veränderungen müssen weniger aus einer Sachzwanglogik erfolgen, nach dem Motto: "Wir müssen uns jetzt verändern.“ Die zentrale Frage sollte bleiben, in welche Richtung man sich verändern will. Künstliche Intelligenz schafft ein besonderes Momentum: Beschäftigte haben jetzt die Möglichkeit, die Arbeitswelt aktiv neu und besser mitzugestalten – und zu erkennen, dass sich der Einsatz wirklich lohnt.

Dies erfordert eine Führungskultur, die Beschäftigte stärker einbindet und den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Hier schließt sich der Bogen zu New Work, wenn Teamstrukturen etabliert werden, in denen Mitarbeitende sich als selbstbestimmte Akteure wahrnehmen.

Welche Rolle spielen Homeoffice und hybrides Arbeiten bei der Neugestaltung?

Es gibt Studien, die zeigen, dass Homeoffice zunächst einen kurzfristigen Vorteil bietet, dass man flexibler und ungestörter arbeiten kann. Und die digitalen Tools machen das erst möglich. Menschen empfinden ihre Arbeit aber erst dann als sinnvoll, wenn sie nicht nur für irgendwelche KPIs oder Profite arbeiten, sondern das Gefühl haben, einen echten Mehrwert zu schaffen.

Künstliche Intelligenz (KI) und die damit verbundene Teilautomatisierung von Tätigkeiten lässt die Beschäftigten hoffen, in ihrer Arbeit noch stärker als Individuum wahrgenommen zu werden. Sinn wird vor allem in zwischenmenschlichen Beziehungen erfahren. Hier ist es wichtig, sich als Teil von etwas zu erleben, und dieses Gefühl entsteht eher analog. Mit mehr KI und mehr Digitalisierung steigt das Bedürfnis danach.

Konkret: An den Tagen, an denen man nicht im Homeoffice arbeitet, geht es darum, die Präsenztage bewusst als Tage der analogen Begegnung zu gestalten, die eine informelle Verbundenheit ermöglicht. Diese Tage sollten nicht hart durchgetaktet sein, sondern vor allem das Zusammenwachsen von Individuen zu einem Team ermöglichen. (bs)

Das Interview führte Boris Schlizio.