Kosten der Energiewende: Wo die Modelle falsch liegen

Tim Meyer hat Elektrotechnik studiert und am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme (ISE) promoviert. Nach Tätigkeiten in der Fraunhofer-Gesellschaft, der Industrie und als Gründer im Solarstrommarkt war er zuletzt Vorstand beim Ökoenergieversorger Naturstrom. Heute ist er als Berater und Interimsmanager für Energieunternehmen tätig.
Bild: © Rolf Driesen
Gastbeitrag von
Tim Meyer,
Energiemanager und Inhaber der Beratung 3Epunkt
Hinweis: In einer früheren Version des Artikels heißt es, 35 GW Gaskraftwerke seien in der Studie mit CCS am Kraftwerk gerechnet. Das ist falsch. In der Studie wurde lediglich in einer Variantenrechnung mit dieser Option durchgeführt, die jedoch keinen Eingang ins Finalszenario gefunden hat.
Die jüngste Studie von Aurora Energy Research im Auftrag der EnBW hat medial große Aufmerksamkeit erhalten. Zeitlich geschickt im Umfeld der Koalitionsverhandlungen platziert, scheint der vorgestellte "Systemkostenreduzierte Pfad zur Klimaneutralität im Stromsektor 2040" tatsächlich ein relevanter Diskussionsbeitrag zu einer "Neuausrichtung" der Energiepolitik zu sein.
Das Problem: Weder lässt die Studie diesen Schluss methodisch zu, noch legt sie die entscheidenden Prämissen offen, mit denen hier gerechnet wurde. Damit erscheinen ihre zentralen Schlussfolgerungen in der vorliegenden Form eher als Postulate, denn als tatsächliche Diskussionsbeiträge. Fünf zentrale Kritikpunkte:
1. Die modellprägenden Prämissen werden nicht offengelegt
Das Ergebnis einer jeden Modellierung hängt davon ab, welche Input-Parameter man verwendet. Wie wird die zukünftige Kostenentwicklung von Investitionskosten (CAPEX) und Betriebskosten (OPEX) von Solar- und Windkraftwerken angenommen, von Batteriespeichern, Elektrolyseuren oder Gaskraftwerken mit CO₂-Abscheidung und -speicherung (CCS)? Welche Fahrweisen und Auslastungen werden unterstellt, welche Stützung über Kapazitätsmärkte? Werden günstige Flexibilitätsoptionen berücksichtigt und in welchem Umfang? Welche Rolle spielen Resilienz und Importabhängigkeit bei den Szenarien in Zeiten geopolitischer Umbrüche?
Sie sehen, die Liste der Fragen wird schnell lang. Und sie können sich vorstellen, dass jede einzelne Antwort massive Auswirkungen auf das Modellierungsergebnis hat.
Das EnBW-Aurora-Modell geht von hohen zusätzlichen thermischen Kapazitäten im Jahr 2045 aus. 55 GW Gaskraftwerke sollen mit blauem Wasserstoff betrieben werden. Gleichzeitig werden keine modellprägenden Prämissen offenlegt – schon gar nicht zu Kosten und Auslastungen der offensichtlich bevorzugten neuen thermischen Kraftwerke. Die Studie muss sich daher den Vorwurf gefallen lassen, eine vornehmlich interessengeleitete Betrachtung zu sein. Wer viel Gasgeschäft in zentralen Kraftwerken möchte, sollte dieses Szenario zugrunde legen. Interessanterweise gibt die Studie zudem an, dass der Einsatz Gaskraftwerken mit CCS günstiger sei als der von Wasserstoffkraftwerken. Dies wurde im Finalszenario jedoch nicht einberechnet. Auch der CEO von EnBW hat sich in den letzten Tagen wiederholt gegen CCS an Gaskraftwerken ausgesprochen, da diese zu teuer seien.
2. Skalierung von Massenprodukten wie PV und Batterien wird unterschätzt
Traditionell tun sich Fundamentalmodelle schwer, technische Innovationen zu modellieren. So wird weltweit und seit Jahrzehnten die Skalierung und Kostensenkung der erneuerbaren Energien systematisch unterschätzt, erst recht die regelrechte Kostenimplosion und Volumenexplosion bei Batteriespeichern. Beide beruhen auf Skaleneffekten industrieller Massenfertigung, die in der konventionellen Energiewirtschaft bisher unbekannt waren. Die systematische Unterschätzung der Entwicklung der Photovoltaik durch die Internationale Energieagentur IEA ist längst zum Running Gag der globalen Energiewelt geworden.
Im selben Maße überschätzen nationale und internationale Institutionen systematisch die Entwicklung zentraler Kraftwerkstechnologie. Doch Großkraftwerkstechnik skaliert prinzipbedingt über Größe und dadurch mit viel langsameren Lernraten. Und diese Skaleneffekte scheinen nach über 100 Jahren Technologieentwicklung ausgereizt – bei der Atomenergie sind sie sogar ins Negative gedreht, das heißt, der Strom aus neuen Anlagen wird immer teurer.
Und dennoch soll im Aurora-Modell der Ersatz von 70 GW Batterien durch 20 GW thermische Kraftwerke die Systemkosten um jährlich 3 Milliarden Euro senken? Glauben die Autoren ernsthaft, bis zum Jahr 2045 werden in Deutschland durchschnittlich nur 3 GW neue Batterieleistung pro Jahr installiert, trotz der genannten Kostenimplosion und weiterer Technologieentwicklung? Zum Vergleich: Allein in den letzten zwölf Monaten wurden circa 4 GW neue Batteriespeicher installiert. Rein marktlich wohlgemerkt, also ohne staatliche Förderung. Warum und wie soll dieser Zuwachs gebremst werden? Und warum stattdessen 20 GW thermische Kraftwerke über einen Kapazitätsmarkt fördern?
3. Auch die Dynamik von Geschäftsmodellinnovationen wird unterschätzt
In einer Marktwirtschaft sind Preissignale der stärkste Treiber für Innovation und Wachstum. Und die gibt es reichlich: Der tägliche Spread, also die Differenz zwischen niedrigstem und höchstem Strompreis im Großhandel, betrug im Jahr 2024 im Durchschnitt über 120 Euro pro Megawattstunde (MWh). Wer seine Last flexibilisiert, spart bares Geld. Daher findet genau das gerade an vielen Stellen statt, machen sich etablierte Unternehmen und Start-ups daran, Flexibilität als "neue Gold" des Strommarktes zu heben. Doch es geht auch ganz einfach: Wer einen Batteriespeicher einmal am Tag zyklisiert, realisiert allein im Day-Ahead-Markt diese Erlöse. Hinzu kommen etwa noch Intraday-Markt, Regelenergie oder die Optimierung von Netzentgelten.
Doch auch diese "softeren" Innovationen vermögen Fundamentalmodelle traditionell nicht gut abzubilden. Selbst neue Geschäftsmodelle, die schon klar absehbar sind, wie Vehicle-to-Grid (V2G), werden von vielen Modellen noch gar nicht berücksichtigt. Und das, obwohl im Jahr 2045 bei angenommenen 40 Millionen Pkw mit je 50 Kilowattstunden (kWh) Batterie allein hierüber 2 Terawattstunden (TWh) rollende Energiespeicher auf unseren Straßen stehen werden. Stehen, wohlgemerkt, denn 23 Stunden am Tag fahren Autos nicht. Wenn nur 10 Prozent einen Zusatzerlös über V2G realisieren, sind das immerhin 200 Gigawattstunden (GWh). Klar, heute gibt es in Deutschland kaum Smart Meter. Aber bis 2045 sollte der Rollout doch endlich geklappt und neue Geschäftsmodelle ermöglicht haben.
4. Das EnBW/Aurora-Modell scheint nicht im Gleichgewicht
Im Ergebnis dieser Überlegungen scheint das Modell weder für das verglichene "Referenzszenario" auf Basis des Netzentwicklungsplanes NEP (B), noch für das eigene "Finalszenario" im Gleichgewicht. Was meine ich damit? Im Referenzszenario soll der durchschnittliche Day-Ahead-Preis für Strom ohne Inflation auf 129 Euro pro MWh steigen (Realpreise 2023). Das wäre tatsächlich teuer. Doch wie kann sich ein solcher Preis überhaupt einstellen? Dazu eine einfache Plausibilisierung:
Im Jahr 2019 und davor betrug der relative Spread, also die tägliche Differenz zwischen Höchst- und Tiefstpreis im Day-Ahead-Markt bezogen auf seinen Durchschnittspreis circa 80 Prozent. Lag der durchschnittliche Börsenstrompreis im Jahr 2019 bei 38 Euro pro MWh, betrug der tägliche Spread zwischen Höchst- und Tiefstpreis im Schnitt also 30 Euro pro MWh. Nach 2021 ist der relative Spread deutlich gestiegen: Bei kleinem Erneuerbaren-Angebot liegt er aufgrund der hohen Gas-Preise und der Merit-Order höher, bei hohem Erneuerbarem-Angebot aufgrund des gestiegenen Solar- und Windangebotes niedriger. Nach einem Ausflug des relativen Spreads auf etwa 200 Prozent ab Mitte 2024 liegt er im Jahr 2025 bisher wieder um 100 Prozent. Das heißt: Im Schnitt schwankt der Preis jeden Tag um 100 Prozent des Durchschnittspreises. In absoluten Zahlen sind das 113 Euro pro MWh Spread jeden Tag.
Nun bin ich weit entfernt davon, den relativen Spread im Day-Ahead als energiewirtschaftliche Naturkonstante zu definieren. Man mag aber annehmen, dass er im Referenzszenario bei Nutzung von teurem grünem Wasserstoff in Hochpreiszeiten und massiver Überbauung von Photovoltaik und Wind kaum sinken dürfte. Beide Faktoren sind starke Treiber von Volatilität.
Nehmen wir also an, der relative Spread liege auch im Jahr 2045 bei 100 Prozent des Durchschnittspreises im Strommarkt. Wenn er dann 129 Euro pro MWh beträgt, könnten Flexibilitätsanbieter bei täglicher Zyklisierung einer Batterie 129 Euro pro MWh verdienen. Das wäre mehr als im Jahr 2025 im Day-Ahead. Hinzu kämen Erlöse aus Intraday-Geschäften, gegebenenfalls Peak-Shaving und anderen Quellen. Und die Batteriepreise dürften bis 2045 nochmals auf einen Bruchteil ihres heutigen Wertes gefallen sein.
Die Gretchenfrage lautet also: Wie kann es sein, dass der Markt im Modell für das Jahr 2045 nicht mit Batterien überschwemmt wird, nach all der weiteren Kostensenkung und Innovation der kommenden 20 Jahre? Anders gewendet: Sind sich die Modellierer sicher, dass ihre Annahmen zu Investitionskosten neuer Technologien im Gleichgewicht mit ihren Ergebnissen zu Marktpreisen und Volatilitäten sind?
5. Auch methodisch ist die Gegenrechnung des NEP-(B)-Szenarios mit EnBW/Aurora-Zahlen angreifbar
Fundamentalmodelle wie das von Aurora Energy Research sind hochkomplex. Sie bilden Energieinfrastrukturen sowie volkswirtschaftliche, ökonomische und technologische Entwicklungen für ganz Europa und der weltweiten Commodity-Märkte bis 2050 ab. Dafür ist eine große Anzahl verschiedenster Parameter, Prämissen und Modellierungsmethoden erforderlich, die in vielen Iterationen überprüft und optimiert werden. Entsprechend groß ist die Bandbreite der Modellergebnisse verschiedener Anbieter.
Wenn dann jedoch Modellierer A ein Mengengerüst für den NEP (B) ermittelt und Modellierer B dieses mit ganz anderen Prämissen für Investitions- und Betriebskosten nachbildet, hinkt jeder Vergleich schon methodisch. Es ist keine in sich geschlossene Modellwelt mehr, wie sie sonst in der Modellierung verlangt wird. Zwar können solche Gegenrechnungen durchaus interessante Aufschlüsse bieten – aber eben nur, wenn etwa Modellierungsparameter oder Kostenannahmen transparent sind.
Fazit: Niemand bezweifelt, dass der Pfad der Energiewende und ihre Regulierung optimiert werden können und müssen. Doch die in der Studie genannten Einsparungen von 300 bis 700 Milliarden Euro fallen für externe Leser "vom Himmel". Sie sind nicht nachvollziehbar argumentiert und scheinen im Gegenteil an mehreren Stellen unplausibel. Die Autoren sollten sich daher einer Überprüfung durch externe Fachleute öffnen.
Gleichzeitig sollte sich die Energiewirtschaft endlich auch einem in der Studie nicht angesprochenen, unangenehmen Kostenhebel öffnen: der Reduktion von Struktur- und Prozesskosten für alle Marktteilnehmer durch vereinfachte Verfahren und Meldeprozesse, durch klare und einheitliche Strukturen im Verteilnetz und digitale Geschäftsprozesse. Wer die Energiewende wirklich günstiger machen will, setzt hier an – und nicht bei der Planung von Gas-CCS-Kraftwerken.