"Müssen zusätzliche Maßnahmen ergreifen": Amprion-Experte über stabiles Stromnetz

Ulf Kasper ist Leiter Regelreserven und Systembilanz beim Übertragungsnetzbetreiber Amprion.
Bild: © Amprion
Cyberattacke oder Solarkollaps? Über die Ursache des Blackouts in Spanien am 28. April wurde viel spekuliert. Auch wenn die Ursachenforschung weiter andauert – die sichere Stromversorgung ist wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Branchenstimmen warnen schon länger, dass die Energiewende neue Herausforderungen für die Netzstabilität mit sich bringt. Die ZfK hat beim zweitgrößten Übertragungsnetzbetreiber in Deutschland, Amprion, nachgefragt, wie sicher das deutsche Stromnetz ist und was die Übertragungsnetzbetreiber tun, um Schwankungen im Netz auszugleichen.
Herr Kasper, als mögliche Ursache für den Blackout in Spanien und Portugal werden immer wieder Frequenz- und Spannungsschwankungen im Netz genannt. Halten Sie das für möglich?
Die Ursachenforschung läuft noch. Amprion ist hier über eine Expertenkommission des europäischen Übertragungsnetzbetreiberverbandes ENTSO-E auch beteiligt. Es geht darum, herauszufinden, was der Auslöser war. In einer solchen Situation fallen meist mehrere Ereignisse zusammen, das kann hier auch der Fall gewesen sein.
Vor dem Blackout gab es starke Pendelbewegungen im europäischen Netz. Ist das Phänomen ein Risikofaktor – auch in Deutschland?
Das Phänomen ist seit langem bekannt. Kurzfristige Störungen im Gleichgewicht von Einspeisung und Last führen zu einer Schwankung in der Frequenz. In Deutschland haben wir ein sehr stark ausgebautes Netz, was uns als Übertragungsnetzbetreiber hilft, mit solchen Pendelbewegungen umzugehen.
"Wir versuchen als Übertragungsnetzbetreiber die Transformation des Energiesystems zu möglichst geringen Kosten zu ermöglichen."
Welche Rolle spielen erneuerbare Energien, vor allem überschüssiger Solarstrom?
Je mehr Generatoren am Netz sind, desto schwerer ist es in Schwingungen zu versetzen. Konventionelle Kraftwerke verfügen über rotierende Massen, die den Pendelbewegungen Trägheit entgegensetzen. Wenn mehr Einspeisung ohne rotierende Massen ins System kommt, ist das Netz auch leichter in Schwingungen zu versetzen. Bei einem höheren Anteil von erneuerbaren Energien müssen Übertragungsnetzbetreiber zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um sicherzustellen, dass das Netz stabil bleibt.
Welche konkreten Maßnahmen sind das?
Es gibt Dämpfungselemente beim Netzbetreiber. Das sind zum Beispiel Spulen und Kondensatoren, also Betriebsmittel, welche Schwingungseffekten entgegenwirken. Zudem werden gezielt Schalthandlungen und Einspeiseänderungen im Netz vorgenommen, um Pendelungen zu vermeiden oder zu reduzieren. Es ist zudem möglich, rotierende Massen gezielt zu kontrahieren, etwa über eine marktliche Ausschreibung für Momentanreserve.
Wie schnell kann diese Ausschreibung für eine kurzfristig verfügbare Leistungsreserve wirken?
Die Bundesnetzagentur hat im April die Rahmenbedingungen dafür geschaffen. Wir planen die erste marktgestützte Beschaffung der Momentanreserve bereits Anfang nächsten Jahres.
Wen sprechen Sie bei der Ausschreibung an?
Die Ausschreibung ist technologieoffen. Wir erwarten, dass gerade Batteriespeichersysteme, die bislang keine Momentanreserve erbringen, dazu beanreizt werden, ihre Leistungselektronik umzurüsten.
Ausschreibungen verursachen dann zusätzliche Kosten.
Wir versuchen als Übertragungsnetzbetreiber die Transformation des Energiesystems zu möglichst geringen Kosten zu ermöglichen. Von marktgestützten Ausschreibungen erwarten wir uns, dass die Konditionen besser sind, als sie es bei einer Direktvergabe wäre.
"Viele Verteilnetze sind in der Vergangenheit nicht auf eine Rückspeisung in die überlagerten Netzebenen ausgelegt worden."
In Spanien wurde auch über Probleme mit der Spannungsqualität berichtet. Wie sieht das in Deutschland aus?
Spannungserhöhungen im Netz treten typischerweise in den Verteilnetzen auf, wo viel Photovoltaik-Strom eingespeist wird. Die Überspannung drückt dann hoch ins Übertragungsnetz. Viele Verteilnetze sind in der Vergangenheit nicht auf eine Rückspeisung in die überlagerten Netzebenen ausgelegt worden.
Was lässt sich außer dem Netzausbau dagegen tun?
Das ist ein typischer Fall für Schalthandlungen, also Situationen, in denen der Netzbetreiber bewusst Schaltungen im Netz verändert, um die Spannung zu senken. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bereitstellung von Blindleistung, also nicht übertragende Leistung, die sozusagen die Spannung anhebt oder senkt. Deswegen arbeiten wir auch daran, Blindleistung künftig marktlich zu beschaffen.
Wer kann diese Blindleistung liefern?
Ähnlich wie bei der Momentanreserve können konventionelle Anlagen technologiebedingt Blindleistung gut bereitstellen. Aber auch Speicher oder sogar erneuerbare Energien sind dazu in der Lage, wenn ihre Leistungselektronik entsprechend eingestellt wird. Bei Speichern ist die Regelung leichter, weil die Einspeisung steuerbar ist, wenn sie denn geladen sind. Daneben arbeiten wir als Netzbetreiber weiterhin auch mit Kompensationsanlagen.
Wann könnte die erste Ausschreibung kommen?
Wir starten gerade mit der marktgestützten Beschaffung und werden die ersten Mengen in wenigen Wochen ausschreiben. Das heißt übrigens nicht, dass es bislang keine Blindleistung aus Kraftwerken gäbe. Wir steuern diese Anlagen direkt an und diese werden dafür kompensiert. Bei größeren Mengen, wie wir sie künftig brauchen, ist das aber nicht das effizienteste Vorgehen. Deswegen der Schwenk hin zur marktgestützten Beschaffung.
"Wir sind als Übertragungsnetzbetreiber technologieoffen."
Ist das auch der Weg, um Kohlekraftwerke zu ersetzen?
Die Ausschreibungen sind der Versuch einer effizienten Beschaffung. Wir sind als Übertragungsnetzbetreiber technologieoffen. Es geht rein um die Einsparpotenziale gegenüber der Direktanweisung, die wir trotz des Mehraufwands sehen.
Im Kontext des Blackouts in Spanien wurde auch häufig das N-1-Prinzip genannt. Also, dass das Netz immer den Ausfall eines Betriebsmittels verkraften können muss. Reicht das noch aus? N-1 galt auch in Spanien.
Das N-1-Prinzip ist der Garant für eine sichere Stromversorgung und gilt in ganz Europa. Spanien ist durch seine Randlage anfälliger dafür, von Netzpendelungen beeinflusst zu werden. Grundsätzlich beschäftigt uns aber die Frage, wann es sinnvoll ist, mit einem höheren Sicherheitskriterium zu arbeiten. Das gilt etwa für Situationen, wo mehrere Fehlerfälle gleichzeitig zu erwarten sind, etwa bei Extremwetterereignissen.
Grundsätzlich ergibt N-2 oder mehr keinen Sinn?
Wir würden davon abraten, das als Standard zu nehmen, denn das wäre volkswirtschaftlich nicht vernünftig und sinnvoll. Übrigens wissen wir in Spanien nicht, ob N-2 oder mehr geholfen hätte, solange wir die genaue Ursache noch nicht kennen.
Der Aufwand für Netzbetreiber wird aber steigen.
Das Übertragungsnetz verändert sich mit der Energiewende, die ja auch ein europäisches und gar kein deutsches Phänomen mehr ist. Für die europäischen Übertragungsnetzbetreiber stellt sich die Frage: Wie passen wir den Systembetrieb darauf an? An einigen Stellen brauchen wir sicherlich mehr Betriebsmittel, an anderen Stellen aber vielleicht auch weniger Hilfsmittel.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Mit der Regelreserve sichern sich Netzbetreiber gegen den größten Kraftwerksausfall ab. Durch die Energiewende werden die einzelnen Kraftwerksblöcke kleiner, dadurch muss ich mich auch gegen kleinere Ausfälle absichern. Im Gegenzug gewinnt die Erzeugungsprognose für die erneuerbaren Energien an Bedeutung. Die spannende Aufgabe wird sein, dass wir Entwicklungen antizipieren und jeweils die richtigen Werkzeuge zur Hand haben.
Das Interview führte Julian Korb.
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