Klärschlamm: Unterschätzte Ressource der Wärmewende

EEW betreibt 21 thermische Verwertungsanlagen in Europa, hier die Anlage im mecklenburgischen Stavenhagen.
Bild: © EEW
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Gastbeitrag von
Timo Poppe
CEO
EEW Energy from Waste
Die Energiewende ist kommunal. Diese Erkenntnis ist nicht neu – aber aktueller denn je. Kommunale Unternehmen und Stadtwerke tragen längst entscheidende Verantwortung für Klimaschutz, Wärmewende und Versorgungssicherheit. Während jedoch Wind, Photovoltaik und Wasserstoff politisch wie medial im Fokus stehen, bleibt eine naheliegende Energiequelle bislang unter dem Radar: Klärschlamm.
Dabei ist dieser alles andere als eine Nische. In Deutschland fallen jährlich rund 1,75 Millionen Tonnen Klärschlammtrockenmasse an – ein Stoffstrom, der bislang oft primär unter Entsorgungskosten verbucht wird. Doch Klärschlamm enthält Energie, CO₂-Potenzial und Rohstoffe wie Phosphor.
Kommunen, die hier frühzeitig in moderne Verwertungstechnologien investieren, können gleich mehrfach profitieren: durch regionale Wärmeversorgung, durch Rohstoffrückgewinnung – und durch eine langfristig gesicherte Entsorgung.
Über den Autor
Timo Poppe ist Vorsitzender der Geschäftsführung der EEW Energy from Waste. Das Unternehmen betreibt 21 Anlagen in Europa, verwertet jährlich über fünf Millionen Tonnen Abfälle und Klärschlämme und ist Marktführer in Deutschland in der thermischen Abfallverwertung. Im Verband kommunaler Unternehmen (VKU) ist Timo Poppe seit Mai 2024 Mitglied im Leitausschuss Energiewirtschaft und war zuvor Präsidiumsmitglied sowie Vorsitzender des Digitalisierungsausschusses. Seit März 2023 ist er Vizepräsident des BDE Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft.
Gesetzlicher Druck trifft infrastrukturelle Lücke
Mit der novellierten Klärschlammverordnung (AbfKlärV) steht ab 2029 ein Umbruch bevor: Die bodenbezogene Ausbringung von Klärschlamm wird für größere Anlagen weitgehend untersagt. Die Gründe sind nachvollziehbar – Mikroplastik, Schwermetalle und Medikamentenrückstände haben auf Ackerflächen nichts verloren. Doch mit dem Verbot entfällt ein bislang günstiger Entsorgungsweg.
Laut einer Studie des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW) sind etwa 65 Prozent aller Kläranlagen in Deutschland aktuell noch nicht an einen thermischen Verwertungsweg angebunden. Rund 850 Kläranlagen müssten mittelfristig umstellen oder sich externen Verwertungsverbünden anschließen.
Der Investitionsbedarf für neue Monoverbrennungsanlagen beläuft sich laut BDEW auf über drei Milliarden Euro bis 2035 – eine Herausforderung, aber auch eine Chance für zukunftsfeste Infrastruktur.
Monoverbrennung: Energie, Klimaschutz und Rohstoffe auf einmal
Ein zukunftsfester Weg ist die Monoverbrennung von Klärschlamm. Das Verfahren ist etabliert und bietet zahlreiche Vorteile für kommunale Strategien: Der Schlamm wird bei über 850 Grad Celsius thermisch verwertet, organische Schadstoffe werden sicher zerstört, und die entstehende Wärme kann zur Stromerzeugung oder zur Einspeisung in Wärmenetze genutzt werden.
Wir bei EEW betreiben aktuell 21 thermische Verwertungsanlagen in Europa mit einer Kapazität für fünf Millionen Tonnen Haus- und Gewerbeabfall sowie mehr als 650.000 Tonnen teilentwässerten Klärschlamm – eine davon etwa im mecklenburgischen Stavenhagen.
Dort werden bis zu 160.000 Tonnen Klärschlamm jährlich verarbeitet. Die Abwärme aus dem Trocknungsprozess wird aufbereitet und ab 2026 direkt in das lokale Fernwärmenetz eingespeist. Die CO₂-Einsparung liegt bei rund 2400 Tonnen jährlich.
Hier lohnt sich ein Blick ins Ausland, denn ein weiteres Vorzeigeprojekt befindet sich in Zürich, wo ab 2028 eine Anlage mit CO2-Abscheidungstechnologie betrieben wird. Dort sollen jährlich 25.000 Tonnen CO₂ aus der Klärschlammverwertung entweder dauerhaft gespeichert oder in Recyclingbeton gebunden werden. Solche Modelle zeigen: Die technische Machbarkeit ist gegeben – es fehlt oft nur noch die politische Umsetzung auf kommunaler Ebene.
Rohstoff Phosphor: Kreislauf schließen statt importieren
Neben der Energie steckt im Klärschlamm ein weiteres Potenzial: Phosphor. Phosphor ist ein essenzieller, nicht ersetzbarer Nährstoff, der in vielen biologischen und industriellen Prozessen eine zentrale Rolle spielt. Die EU hat Phosphor bereits 2014 als "kritischen Rohstoff" eingestuft.
Über 90 Prozent der globalen Phosphatreserven liegen in nur fünf Ländern, darunter Marokko und China. Deutschland importiert jährlich über 100.000 Tonnen Phosphatdünger – mit steigenden Preisen und geopolitischer Unsicherheit.
Die Rückgewinnung aus Klärschlammasche kann hier zur Versorgungssicherheit beitragen. Technologien wie Ash2Phos oder PHOS4green ermöglichen Rückgewinnungsraten von 60 bis 90 Prozent, abhängig von Aschequalität und Verfahren.
Kommunen, die heute in solche Verfahren investieren, sichern nicht nur die Einhaltung der AbfKlärV, sondern positionieren sich zugleich als aktive Partner der Landwirtschaft – durch transparente, schadstofffreie und zertifizierte Recyclingdünger.
Klimabilanz: häufig neutral – mit Potenzial für mehr
Allerdings istdie thermische Klärschlammverwertung heute noch häufig ein Nullsummenspiel in Sachen CO₂: Die Emissionen der Verbrennung entsprechen ungefähr den Einsparungen durch die Vermeidung von Deponierung und Methanfreisetzung. Laut dem Umweltbundesamt liegt der CO₂-Ausstoß pro verwerteter Tonne Trockensubstanz bei etwa 0,6 Tonnen, die vermiedenen Emissionen bei ähnlichem Niveau.
Neue Technologien wie die CO₂-Abscheidung (CCS/CCU) könnten das ändern. Unsere Pilotprojekte bei EEW in Kooperation mit Capsol Technologies oder GEA zeigen, dass bis zu 90 Prozent der Emissionen abgetrennt werden können.
In Kombination mit biogenen CO₂-Anteilen ergeben sich sogar Möglichkeiten für negative Emissionen – ein Novum für die kommunale Abfallwirtschaft. Derzeit fehlt es jedoch an gesetzlichen Anreizen, um diese Technologien in Serie zu bringen – etwa durch eine Integration in das BEHG oder in den europäischen Emissionshandel.
Kommunale Hebel: Finanzierung, Förderung, Verantwortung
Klar ist auch:Der Bau einer Monoverbrennungsanlage ist eine Großinvestition. Doch die Förderkulisse ist besser als oft angenommen. Über die Bundesförderung für effiziente Wärmenetze (BEW) können bis zu 40 Prozent der Investitionskosten für Wärmeauskopplung oder Netzanschluss gefördert werden. Auch das KfW-Programm "Kommunale Klimaschutzinvestitionen" bietet Spielraum.
Trotz dieser Fördermöglichkeiten geraten viele Projekte ins Stocken. Mehrere Vorhaben zum Bau von Klärschlamm-Monoverbrennungsanlagen wurden gestoppt oder verschoben, weil die Kosten explodieren. Während wir als EEW unsere Klärschlammverbrennungsanlage in Stavenhagen noch für rund 70 Millionen Euro errichten konnte, würde ein vergleichbares Projekt heute mehr als das Doppelte kosten.
Die Anlage in Rostock ist an den hohen Kosten gescheitert, die Erweiterung der VERA in Hamburg wird mehr als doppelt so teuer wie ursprünglich geplant. Projekte von MVV in Leuna und von EEW in Stapelfeld wurden wegen steigender Kosten und unklarer Marktlage ausgesetzt.
Damit die ab 2029 geltende Pflicht zur Phosphorrückgewinnung eingehalten werden kann, braucht es ausreichend Anlagenkapazität – und dafür vor allem eins: Ausschreibungen jetzt, um Investoren die nötige Planungssicherheit zu geben.
Jetzt ist die Zeit, Verantwortung zu übernehmen
Klärschlamm ist kein Reststoff, sondern eine Ressource. Wer ihn klug nutzt, kann mehrere Ziele gleichzeitig erreichen: sichere Entsorgung, lokale Wärmeerzeugung, CO₂-Einsparung und Rohstoffrückgewinnung. Die Technologien sind einsatzbereit. Fördermittel sind vorhanden. Die gesetzlichen Veränderungen sind absehbar.
Was jetzt fehlt, sind kommunalpolitische Entscheidungen – nicht irgendwann, sondern jetzt. Denn die Wärmewende wird nicht nur in Großprojekten entschieden, sondern in Zweckverbänden, im Kreistag, im Aufsichtsrat der Stadtwerke. Wer handelt, wird in fünf Jahren nicht nur gesetzeskonform sein – sondern Vorreiter für regionale Klimastrategien.
Und das ist eine Chance, die wir nicht liegen lassen sollten.
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