Strom

Stromversorgung: Warum Deutschland im schlimmsten Fall bis zu 50 Kraftwerke fehlen

In einer Studie hat das Beratungsunternehmen PwC ein Worst-Case-Szenario durchgerechnet. Demnach könnte Deutschland in tausenden Stunden im Jahr den Strombedarf nicht selbst decken.
04.07.2025

Das Leag-Kraftwerk Jänschwalde soll Ende 2028 vollständig vom Netz gehen.

Von Julian Korb

Deutschlands Stromversorgung drohen in den kommenden Jahren massive Engpässe. Im schlimmsten Fall entsteht ab 2035 ein Versorgungsdefizit in mehr als der Hälfte aller Stunden, wie eine Studie der Beratung PwC ergeben hat. Im Jahr 2040 könnte sogar in über 5000 Stunden pro Jahr Erzeugungskapazität fehlen. Konkret sind das mehr als 25 Gigawatt (GW) Strom – in etwa die Leistung von 50 Großkraftwerken.

"In der Studie zeigen wir auf, wie groß die Kapazitäts- und Flexibilitätslücke werden kann, wenn die Entwicklung nicht so voranschreitet, wie bislang angenommen", erklärt Andree Simon Gerken, Partner bei PwC Deutschland und Mitautor der Studie. Dabei haben die Berater ein Basis-Szenario und ein sogenanntes "Schock-Szenario" berechnet.

"Das Schock-Szenario ist eine bewusste Zuspitzung", so Gerken. Es könnte dann eintreten, wenn der Ausbau der erneuerbaren Energien einbricht und gleichzeitig der Stromverbrauch deutlich stärker steigt, als es der Netzentwicklungsplan (NEP) der Übertragungsnetzbetreiber und der Bundesnetzagentur bislang vorsieht.

Geschäftsmodell Erneuerbare wackelt

Die Studienautoren haben dabei Zweifel, ob das Basis-Szenario mit hohem Ausbau von Erneuerbaren und nur leicht steigendem Stromverbrauch realistisch ist. PwC-Berater Gerken sieht bereits jetzt Anzeichen, dass Investoren sich bei Investments in erneuerbare Energien zurückhalten.

"Die Kannibalisierung, gerade bei der Solarenergie, wird zunehmen, wenn wir nicht ausreichende Flexibilität für die jeweiligen Lücken aufbauen." Zwar sähen die Bedingungen beim Bau neuer Windkraftanlagen an Land und beim Repowering alter Anlagen noch besser aus. Aber es gebe auch Alternativen. "Investoren schielen auf stabilere Investments, etwa in den Kraftwerks- und Wärmesektor", so Gerken.

Die Studienautoren sprechen mit Blick auf den deutschen Strommarkt von einem "komplexen Marktversagen". Die hohe Anzahl von negativen Strompreisen an der Börse sei dafür ein Anzeichen. Schon jetzt sinken die Erlöse für Solar- und Windstrom deutlich, denn die Anlagen erzeugen immer mehr überschüssigen Strom in Stunden, in denen die Nachfrage nicht ausreicht. Für Anlagenbetreiber wird das zum Problem.

Künftiger Stromverbrauch unterschätzt

Doch nicht nur das Stromangebot sei das Problem. Die Studienautoren sind zudem der Meinung, dass in den bisherigen Annahmen zum künftigen Stromverbrauch viele Entwicklungen unterschätzt werden. So werde der Stromverbrauch derzeit vor allem durch ein schwieriges wirtschaftliches Umfeld gedämpft  – und weniger durch Effizienzmaßnahmen.

"Der Einbruch der Industrie sollte kein langfristiger Planungstrend sein, denn Dekarbonisierung durch Deindustrialisierung kann nicht Ziel unserer Wirtschaftsplanung sein", so Studienautor Gerken. Auch die Elektrifizierung im Schwerlastverkehr oder der Energiehunger der Datenzentren würden in den Szenarien noch nicht umfassend berücksichtigt. Hinzu kämen absehbare Verbräuche durch mehr Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge.

Stromimporte keine Dauerlösung

In der Folge könnte es zu immer mehr Stunden am Strommarkt kommen, in denen das Angebot durch die Erneuerbaren nicht ausreicht, gleichzeitig aber noch nicht genügend Flexibilitätstechnologien zur Verfügung stehen, um die Schwankungen abzufedern. PwC-Partner Gerken warnt die Bundesregierung davor, sich dauerhaft auf Stromimporte aus den Nachbarländern zu verlassen. 

"Wir müssen das Problem selbst in den Griff bekommen und können uns nicht dauerhaft auf Stromimporte verlassen." Zumal Deutschlands Nachbarländer auch Schwierigkeiten mit ihrem eigenen Strommix haben. So mussten Frankreich und die Schweiz in diesem Jahr bereits Kernkraftwerke wegen der Hitze abschalten. "Und wir stehen noch am Anfang des Sommers."

Seit der Energiekrise ist Deutschland kein Stromexporteur mehr. Im Jahr 2024 wurde der Stromverbrauch hierzulande zu etwa sechs Prozent aus Importen gedeckt. Größter Stromlieferant war Frankreich. Sollte der Kohleausstieg planmäßig verlaufen und der Zubau an Gaskraftwerken sich verzögern, könnte der Importanteil weiter steigen.

Hohe Erwartungen bei Batteriespeichern

Die Studienautoren raten zudem dazu, das Potenzial von Speichern nicht zu überschätzen. PwC-Berater Gerken sieht Parallelen zu den Diskussionen um grünen Wasserstoff. "Die Herstellung von heimischem Wasserstoff war in Deutschland lange Zeit die große Hoffnung, um die Dunkelflaute zu überstehen." Inzwischen herrsche bei Wasserstoff jedoch Katerstimmung.

"Wir sollten vorsichtig sein, dass wir eine derart überambitionierte Erwartungshaltung auf Großbatterien übertragen." Diese wichtige Technologie müsse "stetig und realistisch" eingesetzt werden.

Auch andere Studien kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. So zeigte eine Studie der Beratung Thema Consulting zuletzt, dass selbst ein flächendeckender Speicherzubau nicht verhindere, dass in bestimmten Stunden Strom keinen Marktwert besitze. Selbst bei einem massiven Ausbau von Stromspeichern seien weiterhin hunderte Negativpreise pro Jahr zu erwarten.

Kraftwerksneubau entscheidend

Umso entscheidender ist aus Sicht der Studienautoren, dass der Neubau steuerbarer Kraftwerke schnell in Gang kommt. Die von Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche (CDU) angekündigten 20 GW an neuen Gaskraftwerken sind laut Gerken keineswegs zu hoch gegriffen. "Wir brauchen planbare Energiekosten und einen stabilen Energiemarkt." Die Bundesregierung müsse nach einer Evaluationsphase schnell in die Detailplanung kommen.

Wirtschaftsministerin Reiche hatte angekündigt, Kraftwerksausschreibungen für fünf bis zehn Gigawatt noch in diesem Jahr auf den Weg zu bringen. Studien zeigen aber, dass es zehn oder sogar fünfzehn Jahre dauern könnte, bis solche Anlagen in Betrieb gehen. Unter anderem, weil es weltweite Engpässe bei Gasturbinen gibt, wie ein Bericht der Investmentbank Lazard aufzeigt.

Auch deshalb hält Studienautor Gerken die kommenden fünf Jahre für die die Energieversorgung und den Industriestandort Deutschland für entscheidend. Bislang fehle bei der Energiewende derzeit der gesamtheitliche Blick, Systemkosten würden nicht ausreichend berücksichtigt.

Mit Spannung wartet die Branche auch auf das von Reiche angekündigte Energiewende-Monitoring. Ein Schwerpunkt bei diesem "Check" soll auf der Versorgungssicherheit und der Bezahlbarkeit der Energiewende, aber auch auf dem Kraftwerksbedarf und dem künftigen Stromverbrauch liegen.

Mehr zum Thema aus dem ZfK-Archiv:

Reiche will Kraftwerke noch 2025 ausschreiben – "Gute Signale" aus Brüssel

Neue Details zu Reiches Energiewende-Check bekannt

Reiche-Pläne: Stromvorhaben haben Vorrang vor Wärmereformen

Strompreise, Kraftwerke, Energiewende-Check: Reiche-Pläne werden konkreter