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Studie: Fachkräftemangel erfordert Kulturwandel und mehr Migration

Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (acatech) hat in einer aktuellen Studie vier Handlungsfelder als Hebel zur Fachkräftesicherung beleuchtet: Arbeitsmarkt-Partizipation, Migration, Digitalisierung und Bildung. Das Ergebnis: In allen vier Bereichen besteht dringender Handlungsbedarf.
22.06.2023

Eine verstärkte Zuwanderung von Fachkräften ist laut der Studie von acatech unverzichtbar.

Die erste Ausgabe der Studienreihe „Innovationssystem Deutschland“ widmete acatech der vielleicht größten Herausforderung für den Innovationsstandort Deutschland: dem Fachkräftemangel. Um die Innovationskraft im Land zu erhalten und auszubauen, sei es entscheidend, den Bedarf flächendeckend zu sichern. Es wird ein politisches Bekenntnis zur Erwerbsmigration und eine "serviceorientierte, ermöglichende Behördenkultur" gefordert, mit dem Ziel auch mehr ausländische Fachkräfte zu gewinnen.

Für die Ergebnisse sprach die Arbeitsgruppe mit mehr als 50 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gewerkschaften und NGOs.

„Die gegenwärtigen Engpässe sind lediglich die Spitze des Eisbergs, denn der demographische Wandel kommt schleichend, aber unausweichlich. Wenn Deutschland nachhaltigen Wohlstand am Innovations- und Wirtschaftsstandort Deutschland bewahren und mehren möchte, müssen inländische und ausländische Erwerbspersonenpotenziale jetzt ausgeschöpft und das schleppende Wachstum der Arbeitsproduktivität gezielt angekurbelt werden“, betont Christoph Schmidt, acatech Vizepräsident, RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung.

„Die gegenwärtigen Engpässe sind lediglich die Spitze des Eisbergs, denn der demographische Wandel kommt schleichend, aber unausweichlich."
Christoph Schmidt, acatech Vizepräsident

Chancen im Inland besser nutzen

In einem ersten Schritt wurden die Potenziale im Inland untersucht. Und es zeigte sich, dass an mehreren Stellschrauben gedreht werden muss: Arbeitssuchende sollten auf ihrem Weg in die Erwerbstätigkeit aktiver unterstützt werden. Und mit besseren Angeboten für Kinderbetreuung und Pflege könnten mehr Teilzeitbeschäftigte ihre Arbeitszeit aufstocken.

Auch die wachsende Gruppe der Älteren solle länger am Arbeitsmarkt partizipieren: Attraktivere Zuverdienstmöglichkeiten während des Rentenbezugs, aber auch ein gesellschaftlicher Diskurs über das Renteneintrittsalter werden als Lösungsansätze genannt.

Insgesamt sollten flexiblere Beschäftigungsformen Erwerbsarbeit mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten besser vereinbar machen.

Migration und Integration sind entscheidende Hebel

Die inländischen Fachkräfte werden jedoch bei weitem nicht ausreichen. Laut der Studie ist eine verstärkte Zuwanderung von Fachkräften daher unverzichtbar. Deutschland müsse als Einwanderungsland attraktiver werden. Insbesondere Visaverfahren und Berufsanerkennung sollten vereinfacht, digitalisiert und zentralisiert werden - durch gut ausgestattete und digitalisierte öffentliche Einrichtungen. Das Ankommen im Land müsse ebenso erleichtert werden wie das Bleiben.

Schmidt: „Es braucht ein gesellschaftliches wie politisches Bekenntnis zur Erwerbsmigration und eine serviceorientierte, ermöglichende Behördenkultur.“

Ein Pluspunkt: Das kostenlose deutsche Bildungssystem ist für ausländische Studierende attraktiv. Die Studie empfiehlt, potenzielle Fachkräfte bereits während des Studiums für den deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen.

Digitalisierung und Automatisierung können die Arbeitsproduktivität erhöhen

Wird der Fach- und Arbeitskräftemangel durch digital unterstütztes und damit produktiveres Arbeiten verringert? Eine solche Produktivitätssteigerung, so die Ergebnisse der Studie, ist bisher kaum erkennbar. Gefordert werden der zügige Auf- und Ausbau der physischen und digitalen Infrastruktur, die Vereinfachung des Datenschutzes sowie die Vermittlung digitaler Kompetenzen.

Hilfreich wäre zudem eine niedrigschwellige Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen bei der Digitalisierung. Auch der Staat solle Impulse für die Digitalisierung geben: Denkbar seien zentrale Identitätsdienste, Standards und Schnittstellen, die eine dezentrale Digitalisierung unterer Ebenen ermöglichten.

Investitionen in Bildung zahlen sich aus

Eine fundierte Aus- und Weiterbildung ist eine grundlegende Voraussetzung für produktive Arbeit und ergänzt alle anderen Handlungsfelder. Die Ergebnisse der Studie betonen insbesondere die Stärkung der Vermittlung von Grundkompetenzen als solide Ausgangsbasis. Ebenso wichtig sei die digitale Kompetenz von Lernenden und Lehrenden.

Und der Einzelne müsse in die Lage versetzt werden, fundierte Entscheidungen über seine berufliche Laufbahn zu treffen. Dies könne durch mehr Praxisanteile in den Lehrplänen sowie durch mehr Arbeitsmarkttransparenz und verständliche Informationen, etwa zur Entlohnung, gestärkt werden.

Gefordert wird auch eine gezielte Förderung des Lebenslangen Lernens, insbesondere für Personen mit geringen Weiterbildungschancen.

Eine Modularisierung der Aus- und Weiterbildung könne auch die internationale Anschlussfähigkeit erleichtern. Ziel ist es, dass ausländische Fachkräfte nur noch die Module nachholen müssen, die ihnen für eine Qualifizierung in Deutschland fehlen.

Außerdem empfiehlt die Studie, Bildungs- und Beratungsangebote in einer gemeinsamen Bildungsplattform zu vereinen, was zu einer erhöhten Beteiligung führen würde.

Deutschland muss sich der Herausforderung stellen

„Es wird notwendig sein, historisch gewachsene Strukturen zu hinterfragen und zu verändern", appelliert Schmidt. „Dabei werden Politik und Gesellschaft schwierige, unbequeme Diskussionen führen müssen – etwa über die Erwerbstätigkeit im Alter, über die Steuerung von Zuwanderung oder auch über grundlegende Reformen im Bildungssystem.“ (bs)