Regierungskommission will Kohleausstieg bis spätestens 2038
Das letzte Kohlekraftwerk in Deutschland soll spätestens 2038 vom Netz gehen – die betroffenen Regionen und Bürger bekommen zum Ausgleich Milliardenhilfen. Nach monatelangen Beratungen hat sich die von der Bundesregierung eingesetzte Kohlekommission am Samstag auf einen Ausstiegsplan geeinigt, der nun in Gesetzesform gegossen werden soll. "Das ist ein historischer Kraftakt gewesen", sagte Ronald Pofalla (CDU), einer der vier Vorsitzenden der Kommission. Er hoffe, dass der Kompromiss zur Befriedung des gesellschaftlichen Konflikts um die Kohleverstromung beitrage. Umweltschützer monierten das späte Enddatum, lobten aber den Einstieg in den Ausstieg. 2032 soll überprüft werden, ob das Ausstiegsdatum angesichts der Lage und im Einvernehmen mit den Betreibern auf 2035 vorgezogen werden kann.
VKU-Hauptgeschäftsführerin Katherina Reiche, Mitglied der Kommission, bezeichnete den Bericht als "eine gute Grundlage, die Beendigung der Kohleverstromung unter den Prämissen der Versorgungssicherheit, des Erhalts von Wertschöpfungsketten, des Klimaschutzes sowie der Innovationsfähigkeit der Regionen zu gestalten". Zentrale Punkte seien Zukunftsperspektiven und Arbeitsplätze in den Revieren. "Für die Stadtwerke sind die Fortführung der KWK-Förderung, die Digitalisierung der Stromnetze, eine Überarbeitung der Abgaben, Entgelte und Umlagen sowie eine Power-to-X-Strategie maßgeblich", erklärte Reiche weiter. "Wir richten die Erwartung an die Bundesregierung, die Empfehlungen der Kommission umzusetzen“, betonte die VKU-Chefin.
Lediglich eine Gegenstimme
Nach dem für Ende 2022 geplanten Atomausstieg wird Deutschland dann ab spätestens 2038 als eines der ersten Industrieländer der Welt neben Erdgas fast komplett auf erneuerbare Energien setzen. In der Kommission rangen Klimaschützer, Gewerkschafter, Wirtschaftsvertreter und Wissenschaftler um Lösungen – am Ende stimmten 27 der 28 Mitglieder dafür. Nach dpa-Informationen stimmte nur die CDU-Politikerin Hannelore Wodtke mit Nein, die sich für den Erhalt der Dörfer am Rand der Tagebaue eingesetzt hatte.
Nach dem Konzept sollen Privathaushalte und die Wirtschaft ab 2023 von möglichen steigenden Strompreisen entlastet werden, was 2 Mrd. Euro pro Jahr kosten könnte. Dazu kommen weitere Subventionen der energieintensiven Industrie sowie Hilfen für Kohle-Kumpel, die früher aus dem Job ausscheiden und diejenigen, die einen neuen Job brauchen. Die Kohleländer Nordrhein-Westfalen, Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen sollen vom Bund über 20 Jahre insgesamt 40 Mrd. Euro Hilfe für den Strukturwandel bekommen, dazu soll die Verkehrsanbindung der Kohleregionen über ein zusätzliches Programm verbessert werden.
Altmaier: Versorgungssicherheit gewährleistet
Wirtschaftsminister Peter Altmaier kündigte in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" an, die Bundesregierung werde die Vorschläge der Kommission "sorgfältig und konstruktiv prüfen". Die Stromversorgung sieht er durch den Kompromiss nicht in Gefahr. "Die Versorgungssicherheit ist gewährleistet." Der CDU-Politiker fügte hinzu: "Auch die Klimaschutzziele der Bundesregierung für das Jahr 2030 werden erreicht." Bundesfinanzminister Olaf Scholz begrüßte die Verständigung der Kohlekommission. Der SPD-Politiker sagte der Zeitung: "Wir richten die Energieversorgung der Industrienation Deutschland komplett neu aus."
SPD-Chefin Andrea Nahles, die vor einer "Blutgrätsche gegen die Braunkohle" gewarnt hatte, meinte: "Das ist das Fundament für einen erfolgreichen Weg zum Kohleausstieg." Grünen-Chefin Annalena Baerbock lobte, es sei zumindest ein erster Schritt gelungen. "Gerade der Einstieg in den Ausstieg und der Erhalt des Hambacher Waldes sind Verhandlungserfolge der Umweltvertreter in der Kommission", sagte sie mit Blick auf das von Umweltschützern vehement gegen eine Rodung verteidigte Waldgebiet im rheinischen Braunkohlerevier. Im Abschlussbericht steht, die Kommission halte das für "wünschenswert". Das Unternehmen RWE beurteilte dieses Ansinnen kritisch.
"Mehrmals vor dem Scheitern gestanden"
Umweltverbände hätten sich ein früheres Enddatum für die klimaschädliche Stromgewinnung aus Braun- und Steinkohle gewünscht, außerdem konkretere Zwischenziele. "Erst im Jahr 2038 aus der Kohle auszusteigen, ist für Greenpeace inakzeptabel", sagte Geschäftsführer Martin Kaiser. Dies habe der Verband in einem Sondervotum klar gemacht. Immerhin: "Nach Jahren im klimapolitischen Wachkoma bewegt sich Deutschland zumindest wieder."
Es seien zähe Verhandlungen gewesen, hieß es in Teilnehmerkreisen – die Kommission habe mehrmals vor dem Scheitern gestanden, oder jedenfalls vor der Vertagung auf die folgende Woche. Immer wieder berieten die Verhandler aus Industrie, Gewerkschaften, Politik, Umweltverbänden und Wissenschaft in kleineren Gruppen. Abends um halb acht brachte ein Lieferdienst acht Taschen Pizza an den Eingang des Bundeswirtschaftsministeriums in Berlin.
Bundeshilfen per Staatsvertrag für betroffene Länder
Während Sitzungsleiter Pofalla zwischen Interessengruppen zu vermitteln suchte, schauten andere Kommissionsmitglieder das Halbfinale der Handball-Weltmeisterschaft zwischen Deutschland und Norwegen. Um kurz vor 5 Uhr morgens kamen die Verhandler nach 21-stündigen Verhandlungen aus dem Ministerium – sichtlich erschöpft, wenige ganz zufrieden. Denn die Einigung ist ein klassischer Kompromiss.
Die betroffenen Bundesländer bekommen – wenn die Politik der Kommission folgt – eine gesetzliche Absicherung der Bundeshilfen per Staatsvertrag. Schon Ende April sollen Eckpunkte für ein "Maßnahmengesetz" vorliegen, das festschreibt, wie der Bund den Strukturwandel genau fördern will. 5000 neue Arbeitsplätze durch die Bundesregierung bis 2028 hält die Kommission für "angemessen".
Treffen mit Merkel am Donnerstag
Vor allem Scholz ist jetzt gefragt. Am kommenden Donnerstagabend wollen die Ministerpräsidenten mit ihm und Kanzlerin Angela Merkel (CDU) beraten. Denkbar ist eine verstärkte Ansiedlung von Bundesbehörden und Forschungseinrichtungen in den Kohleregionen.
Rund ein Drittel des Stroms kommt heute aus Kohlekraftwerken. Sie werden ohnehin schon nach und nach vom Netz genommen, aber die Klimaschutzziele machen einen schnelleren Ausstieg notwendig. Eigentlich wäre erst in den späten 40er Jahren Schluss gewesen. Als schneller Einstieg in den Ausstieg sollen nun bis 2022 insgesamt sieben Gigawatt Kohlekapazität zusätzlich vom Netz, davon drei Gigawatt Braunkohle, deren CO2-Bilanz besonders klimaschädlich ist.
Praetorius: Bewusst keine konkrete Kraftwerksliste
"Wir haben uns bewusst entschieden, in dem Bericht keine konkreten Kraftwerke zu nennen", betonte die Co-Vorsitzende der Kommission, Barbara Praetorius. Der Energieversorger Uniper (früher Eon) forderte rasche Klarheit über die Zukunft seines vor der Fertigstellung stehenden Steinkohlekraftwerks in Datteln. Es ist das einzige noch im Bau befindliche große Steinkohlekraftwerk in Deutschland. RWE will die bis 2022 vorgeschlagene Abschaltung von Braunkohlekraftwerken nicht alleine tragen. Die "genannten Stilllegungen von Braunkohlekapazitäten können aus Sicht von RWE nicht ausschließlich im rheinischen Revier erbracht werden". RWE ist der größte deutsche Braunkohleverstromer mit mehreren Tagebauen und Kraftwerken im Rheinland.
Die Energiewirtschaft lobte dennoch, der Kompromiss biete Planungssicherheit für die Firmen. Die Eigentumsrechte der Firmen würden gewahrt, so der Branchenverband BDEW. Das zielt auf die Regelung, dass Kraftwerksbetreiber Entschädigungen für Stilllegungen bekommen könnten – die Kosten dafür könnten in die Milliarden gehen. BDEW-Präsidentin Marie-Luise Wolff erklärte: "Das ist der erhoffte Durchbruch. Mit diesem Ergebnis besteht jetzt die Chance, dringend notwendige Fortschritte beim Klimaschutz zu erzielen."
"Anpassungsgeld" für Beschäftigte ab 58 Jahren
Auch die Arbeitnehmer zeigten sich den Umständen entsprechend zufrieden. "Keiner der Beschäftigten fällt auf die Knie", sagte der Chef der Bergbaugewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis. Es soll ein "Anpassungsgeld" für Beschäftigte ab 58 Jahren geben, die die Zeit bis zum Renteneintritt überbrücken müssen, sowie einen Ausgleich von Renten-Einbußen. Geschätzte Kosten: bis zu 5 Mrd. Euro. (dpa/hil)