Strom

"Wir stehen am Anfang einer neuen Entwicklungsstufe"

Netzinvestitionen: Die Hälfte der Verteilnetzbetreiber, die an einem Quick-Check von Becker Büttner Held teilnahmen, haben bereits eine spartenübergreifende Zielnetzplanung definiert. Ein Ergebnis das erstaunt. Wieso eine medienübergreifende einheitliche Versorgung so wichtig ist:
01.06.2021

„Die von den Unternehmen betriebenen Medien werden noch zu sehr im „stillen“ Kämmerlein fortentwickelt und geplant. Das muss sich ändern, um eine gemeinsame Planung insgesamt aufsetzen zu können.", sagt Peter Bergmann, Vorstand der BBH Consulting AG.

  • Hintergrund

    Quick-Check Netzinvestitionen

    Es handelt sich hier um eine von BBH Consulting initiierte Branchenumfrage zu Investitionsprozessen im Kontext der Energiesystemtransformation. Von den über 400 Mitgliedern des Arbeitskreis Regulierung Elektrizität Gas Telekommuniatkion Post (AK REGTP) von der Kanzlei Becker Büttner Held haben 100 Verteilnetzbetreiber an der aktuellen Umfrage teilgenommen.

Herr Bergmann, großen Einfluss auf die Netzplanung hat im Quick-Check "Netzinvestitionen" im Kreise desAK-REGTP die Elektromobilität (87 Prozent), gefolgt vom Ausbau erneuerbarer Energien (78 Prozent). Deutlich weiter hinten werden Wärmepumpen (49 Prozent) genannt. Kaum eine Rolle bei der Netzplanung spielen aktuell Wasserstoff (14 Prozent) und Speicher (17 Prozent). Wie bewerten Sie die Verteilung?
Peter Bergmann, Vorstand der BBH Consulting AG: Grundsätzlich war das Ergebnis zu dieser Frage für uns nicht überraschend. Elektromobilität und der Ausbau erneuerbarer Energien haben nach unseren Erfahrungen bereits einen großen Einfluss in der Netzplanung. Wie umfangreich diese Aspekte bei den einzelnen Verteilnetzbetreibern in der Netzplanung berücksichtigt werden, ist stark abhängig von den Strukturen und Eigenschaften des Netzgebietes. So ist beispielsweise die Relevanz von erneuerbaren Energien in urbanen Netzgebieten geringer als in ländlichen Netzgebieten.

Der batterieelektrische Antrieb hat sich bei PKW nach wissenschaftlichen Erkenntnissen als die zukünftige Option dargestellt. Dies ist von einzelnen Erstausrüstern, wie zum Beispiel VW, inzwischen auch adaptiert worden. Zwar setzen einzelne Unternehmen und politische Akteure weiterhin auch bei PKW auf einen „technologieoffenen“ Pfad. Dies scheint jedoch durch die aktuellen Entwicklungen bei Zulassungszahlen, verfügbare Modell von batterieelektrischen Fahrzeugen sowie der verstärkte Ausbau der notwendigen Ladeinfrastruktur überholt zu werden. Somit ist auch der starke Anstieg der Elektromobilität, im Vergleich zu einer Umfrage aus 2017, zu erklären.

Anders ist die Lage sicherlich bei (schweren) Nutzfahrzeugen. Für diese ist eine Entscheidung hinsichtlich des zukünftigen Antriebskonzepts noch nicht endgültig getroffen. Eine Ladeinfrastruktur für diese Fahrzeuge wird jedoch vermutlich nicht flächendeckend installiert, sondern sehr punktuell im Netzgebiet, bspw. auf einem Betriebshof. Dies gilt ebenfalls für einen Betrieb mit Wasserstoff, der anfänglich aufgrund der geringen Mengen vermutlich über ein Trailer-Konzept zur Verfügung gestellt wird. Aufgrund dieser Unsicherheiten werden diese Aspekte bei der operativen Netzplanung noch nicht vollumfänglich berücksichtigt.

Wasserstoff und der Einsatz von Speichern werden im wissenschaftlichen und politischen Kontext aktuell zwar breit diskutiert, haben im operativen Geschäft bisher jedoch noch keine Relevanz. Bisher werden diese Technologien in Pilotprojekten eingesetzt und getestet. Gründe dafür liegen sicherlich auch in den aktuellen regulatorischen Rahmenbedingungen und der damit verbundenen fehlenden Wirtschaftlichkeit.
Die Relevanz von Wärmepumpen ist ebenfalls noch sehr heterogen. Die Verbreitung von Wärmepumpen steigt kontinuierlich an. Der jährliche Bedarf an elektrischer Energie liegt bei ca. 3.500 kWh und entspricht dem Bedarf eines durchschnittlichen Haushalts. Insofern ist der zusätzliche Bedarf durchaus in einer relevanten Größenordnung. Jedoch spielt der langfristig prognostizierte Zuwachs von Wärmepumpen in der aktuell noch häufig anzutreffenden eher kurzfristig ausgerichteten Investitionsplanung eine teilweise noch untergeordnete Rolle.

Hat es Sie erstaunt, dass die Hälfte der teilnehmenden Unternehmen eine spartenübergreifende Versorgung definiert, aber nur 34 Prozent eine spartenübergreifende Zielnetzplanung durchführen? Schließlich beobachtet die Bundesnetzagentur, dass Marktakteure und Experten vermehrt die Idee eines gemeinsamen Szenario-Rahmens für Strom, Gas und Wärme aufgreifen.
Diese Tatsache war in der Tat überraschend. Einerseits haben wir nicht damit gerechnet, dass bereits die Hälfte der Unternehmen bereits eine spartenübergreifende Versorgungsaufgabe definiert hat. Wir haben mit einer deutlich geringeren Zahl gerechnet. Das hängt natürlich von der Interpretation der spartenübergreifenden Versorgungsaufgabe ab. Vermutlich werden Unternehmen nur einzelne, ausgewählte Wechselwirkungen zwischen den Medien berücksichtigt haben und keine umfassende Analyse des dezentralen Versorgungsgebiets vorgenommen haben. Diese ist grundsätzlich mit viel Aufwand verbunden.

Dass andererseits nur ein deutlich geringerer Anteil an Unternehmen eine spartenübergreifende Zielnetzplanung vornimmt und somit für das Netzgebiet ein Zielnetz entwickelt, in dem alle Sparten berücksichtigt werden, könnte aus unserer Sicht an der Komplexität und den dafür noch zu entwickelnden Methoden und Vorgehen liegen. Dies ist sicherlich ein zusätzlicher und neuer Aspekt in der ohnehin schon sehr komplexen Netzplanung.

Wichtig ist an dieser Stelle noch der Hinweis, dass der AK REGTP repräsentativ die Struktur der deutschen Verteilnetzbetreiber wiedergibt und daher unser Quick Check unter den AK-REGTP-Mitgliedern in hohem Maße aussagekräftig ist.

Welche Auswirkungen hat die doch etwas zögerliche Zielsetzung und was sind die Gründe dafür?
Wir erachten diese Entwicklung als eher neu und innovativ. Grundsätzlich bestehen drei Optionen, die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Sparten bei der Netzplanung zu berücksichtigen: Angleichen von Szenarien als Eingangsdaten der Infrastrukturplanung (1), ganzheitliche Energiesystemplanung (2) und integrierter Simulationsprozess von Energiesystem- und Netzmodellierung (3).

Auf europäischer Ebene wird bereits seit dem Jahr 2017 ein gemeinsamer Szenariorahmen für den TYNDP (Ten Year Network Development Plan) Strom und Gas genutzt. Auch auf deutscher Ebene erfolgt inzwischen eine stärkere Abstimmung zwischen den Netzentwicklungsplänen Strom und Gas. Ein einheitlicher Szenariorahmen existiert meines Wissens noch nicht. Daher ist eine zögerliche Umsetzung bei den teilnehmenden Unternehmen nicht vollkommend überraschend.

Gleichwohl ist aufgrund der aktuellen Entwicklungen – Verschärfung der Klimaschutzziele, Konkretisierungen von Maßnahmen zur fossilfreien Energieversorgung etc.– eine vergleichbare Vorgehensweise auch auf Verteilnetzebene notwendig.

Die Ergebnisse der AK-REGTP-Umfrage zeigen, dass wir erst am Anfang einer neuen Entwicklungsstufe stehen. Die von den Unternehmen betriebenen Medien werden noch zu sehr im „stillen“ Kämmerlein fortentwickelt und geplant. Das muss sich ändern, um eine gemeinsame Planung insgesamt aufsetzen zu können. Die übergeordneten Arbeiten funktionieren schon ganz gut bei einer geordneten Bauplanung für ein Jahr. Der darüberhinausgehende Planungshorizont lässt aber sicher Raum für deutlich mehr interdisziplinäres Arbeiten.

Sollte diese spartenübergreifende Zusammenarbeit nicht erfolgen, drohen stranded investments und ineffizient ausgenutzte Betriebsmittel. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen – Verschärfung der Klimaschutzziele – ist die Definition einer gemeinsamen Versorgungsaufgabe zwingend erforderlich.
 
 
Wie wichtig ist eine medienübergreifende einheitliche Versorgungsaufgabe ? Und wie lässt sich diese verwirklichen?
Die Definition einer medienübergreifenden Versorgungsaufgabe wird zukünftig Grundlage aller Aktivitäten der Netzplanung sein. Nur so können Wechselwirkungen zwischen den Medien bspw. durch Sektorenkopplung, Technologiewechsel etc. adäquat abgebildet werden. Die Vorgehensweise zur Definition einer einheitlichen Versorgungsaufgabe ist in nachfolgender Abbildung dargestellt. Grundsätzlich kann dabei in drei Schritten unterschieden werden. Wichtig ist dabei einerseits die Betrachtung aller Medien und andererseits die Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten. Zudem ist es auch notwendig, unterschiedliche Szenarien zu betrachten, um die Unsicherheiten der zukünftigen Entwicklungen in die Entscheidungsfindung einzubeziehen und die jeweiligen Auswirkungen unterschiedlicher technologischer, ökonomischer und regulatorischer Rahmenbedingungen sichtbar zu machen.

Im ersten Schritt werden zunächst die bereits existierenden nationalen Transformationspfade identifiziert und analysiert. Dazu werden in einer Metaanalyse relevante nationale Studien hinsichtlich unterschiedlicher Transformationspfade untersucht. Diese werden anhand bestimmter Kriterien systematisiert. Auf dieser Grundlage werden repräsentative Transformationspfade abgeleitet, die die unterschiedlichen Trends darstellen. Für diese werden die relevanten Parameter identifiziert und festgelegt.

Diese nationalen Entwicklungen können jedoch nicht vollständig auf kleinteiligere Versorgungsgebiete übertragen werden. Vielmehr ist es notwendig, die regionalen Gegebenheiten der jeweiligen Untersuchungsregion bei der Definition der Versorgungsaufgabe zu berücksichtigen. Zunächst wird das betrachtete Versorgungsgebiet dazu in Teilnetze zerlegt. Diese sollen für sich genommen homogen und untereinander heterogen sein. Für diese Teilnetze werden die regionalen Gegebenheiten wie die lokalen Potentiale für erneuerbare Energien, die Strukturen der Nachfragesektoren und Energiebedarfe sowie die vorhandenen Netzinfrastrukturen ermittelt.

Anschließend wird auf Ebene dieser Teilnetze das gesamte Versorgungsgebiet in einem digitalen Modell abgebildet. Im Rahmen einer integrierte Energiesystemmodellierung und -optimierung wird die zukünftige Versorgungsaufgabe bestimmt. Ausgehend von einem Zielbild bspw. im Jahr 2050 wird der kostenoptimale Transformationspfad modelliert. Dabei können auch weitere Nebenbedingungen wie Höhe der Treibhausgasemissionen, Durchdringung einzelner Technologien etc. berücksichtigt werden. Dazu nutzen wir unser räumlich und zeitlich hoch aufgelöstes Energiesystemmodell (Regional and Renewable Energy System Model), in dem alle Nachfragesektoren und Medien abgebildet werden können. Die Modellierung erfolgt für unterschiedlich Szenarien entsprechend der im ersten Schritt ermittelten grundlegenden Transformationspfade. Dadurch können die Auswirkungen der unterschiedlichen technologischen, ökonomischen und regulatorischen Entwicklungen abgeschätzt werden. Auf dieser Grundlage können dann robuste Entscheidungen für den Umbau der Infrastruktur getroffen und entsprechende Maßnahmen für einzelne Teilnetze und Medien abgeleitet werden.

Die Fragen stellte Stephanie Gust